- Florian Conrad
Über AnhängerInnen und Außenstehende
Politiker werden sich die Frage stellen müssen und gestellt haben, ob es sinnvoll
sei, sich überhaupt mit dem Thema „gendergerechte Sprache“
auseinanderzusetzen. Sie werden oft genug zu dem Ergebnis kommen, dass die
kluge Methode Merkel(s) hier angezeigt wäre: dass bei dieser abgegrasten
Diskussion nichts zu gewinnen sei. Viel besser sei es, so haben gewiss zahlreiche
Berater hinter verschlossenen Türen geäußert, so zu sprechen, wie es das
Publikum verlangt. Außerdem sei der Politiker kein Sprachwissenschaftler. Und mit
allzu klaren Äußerungen in die eine oder andere Richtung droht man bekanntlich
regelmäßig einen Teil der Wählerschaft zu vergraulen.
Es darf also niemanden wundernehmen, wenn sowohl die am korrektesten
gendernden Deutschsprechenden als auch ihre vehementen Gegner ein
begrenztes Zustimmungspotenzial haben. Die Warnung, die Friedrich Merz vor
Spielplätzen für „Kinder und Kinderinnen“ ausgesprochen hat, ist ein augenfälliges
Beispiel: Voraussehbar, dass dieser in der Tat im Jahr 2021 nicht mehr originelle
„Witz“ von der anderen Seite als plump, feministische Sprechkritik nicht treffend,
ja, „populistisch“ demaskiert würde.
Solcher Gegenwind ist berechtigt, doch er trifft genau so wenig die
wesentlichen Probleme wie die Aussagen Merzens zum Thema. (Dieser würde die
Lektüre dieses Textes vermutlich spätestens nach dem vorigen Absatz abbrechen,
da es wichtigere Probleme gebe). Doch politische Probleme sind grundsätzlich
auch diejenigen, die politische Akteure sehen, nicht nur diejenigen, die irgendwie
objektiv vorhanden sind. Und wer kann sich überhaupt die Rolle des „objektiven“
Beobachter oder Schiedsrichters anmaßen? Merzens Wort von den Kindern und
Kinderinnen ist im Jahr 2021 nicht mehr nur ein unorigineller „Witz“, der bei
einigen Anhängern des Feminismus schlecht ankommt. Er gibt wichtigen Personen
des öffentlichen Lebens Anlass zur weiteren Emotionalisierung des damit
verbundenen Themenkomplexes, wobei diese freilich die „Schuld“ bei Merz
gefunden zu haben glauben. Geradezu notwendigerweise beginnen Menschen
daran zu zweifeln, dass Meinungsfreiheit faktisch noch in genügendem Maße
gegeben ist, während ihre Kritiker den obigen „Witz“ als Angriff definieren und
damit die Frage nach der Meinungsfreiheit eine Themaverfehlung sei. Um zu
verdeutlichen: Ich behaupte weder, dass die Kritiker Merzens per se Gegner der
freien Debatte, noch, dass Merz und Seinesgleichen verbale Gewalttäter seien. Ich
behaupte aber sehr wohl: Ihre jeweiligen, selbstverständlich immer möglichst
aufgeregt vorgetragenen Aussagen schaukeln einander mit einer gewissen
psychologischen Notwendigkeit hoch.
Man könnte nun meinen, es sei ja wohl ein Leichtes, jedem seine Freiheit zu
lassen. Dann würde, wer will, wie er will, „gendern“, und wer nicht, der lässt es
eben bleiben. Das befürworte ich. Allein, es genügt es nicht, die genannte
Emotionalisierung und Moralisierung sowie die daraus resultierende
gesellschaftliche Spaltung zu heilen. Ebenso lässt der bequeme Verweis auf das
angebliche Ende der eigenen Freiheit bei der Freiheit des Nächsten
unberücksichtigt, dass auf der Grundlage unterschiedlicher Weltsichten sehr
unterschiedliche Dinge als Freiheitseinschränkung betrachtet werden können.
Wenn Sprache Wirklichkeit produziert, dann ist die Frage nach
geschlechtergerechter Sprache essentiell und existenziell.
An dieser Stelle sei auf einen offensichtlichen Aspekt der leidlichen Debatte
hingewiesen, der in der veröffentlichten Meinung ausgeblendet oder übersehen
wird. Wer Reden schwingt wie Friedrich Merz, lädt nicht gerade zur Diskussion ein
und trägt insofern auch nicht zur Meinungsfreiheit bei. Nun ist Merz Politiker und
kann seine Aufgabe mit einiger Berechtigung gerade im Redenschwingen sehen.
Doch das Redenschwingen praktizieren heute fast alle Beteiligten. Ihr Verhalten
zielt entweder nicht darauf ab oder hat nicht zur Konsequenz, gesellschaftliche
Spaltungen zu überwinden. Vielmehr agieren sie wie (Partei-)Politiker, wenn sie es
nicht selbst sind, indem sie abwägen, ob und ggf. wie sie kurzfristig etwas
gewinnen können oder nicht. Sie tragen nicht zur Verständigung bei. Sie
ignorieren gegebenenfalls ihre christlichen Grundsätze, indem sie ihren
politischen Gegnern nicht zuhören oder sie verstehen wollen, ja, Aus- und
Abgrenzung wird zur Tugend gemacht. Sie treten nicht wirklich für eine
Wählergruppe oder für irgendeine Minderheit ein, sondern – jedenfalls faktisch –
für sich selbst.
Beide Seiten fühlen sich unverstanden. Die einen beklagen sich über Merzens
Nichtwitz, die anderen über autoritäres Gehabe von Feministen. Die nicht
unbedingt „objektive“, jedenfalls aber unparteiliche und unparteiische, neutrale
und erklärend-verstehende, und das heißt auch, die eigentlich wissenschaftliche
Perspektive derer, die von Berufs wegen Außenstehende sind, kommt zu kurz. Sie
gibt zumindest zu bedenken, dass Identitätsstiftung in Gruppen beinahe
notgedrungen zur Abgrenzung nach außen führt, die blind macht für potentiell
wichtige Aspekte der Realität. Sie erinnert, dass die eigene Gruppe gern als
vielfältig wahrgenommen, die Gegnergruppe als homogen – und zwar zu unrecht.
Sie weiß, dass Kritik vorschnell als grundsätzlicher Angriff fehlinterpretiert wird.
Konkret: Wenn „wir“ die Guten sind, d.h. die, die die Freiheit oder die
Gleichberechtigung verteidigen, dann entfernen wir uns bereits von der Realität.
Das ist nicht etwa moralisch verwerflich, sondern Motor von gesellschaftlichem
Engagement. Nur muss es einen Mechanismus geben, der den genannten
Schlagseiten der menschlichen Natur entgegentritt.
Dieser ist nicht schon gefunden, wenn man für die Freiheit aller eintritt, auch
wenn das natürlich ein erster Schritt ist. Vielmehr ist der Bestand der Freiheit
davon abhängig, ob die Mitglieder einer Gesellschaft gerade angesichts von
Unterschieden jeglicher Art, u.a. Meinungsverschiedenheiten, aktiv aufeinander
zugehen und in einer Verbindung aus der Achtung vor dem Nächsten und einer
Bereitschaft, von ihm zu lernen, unter Inkaufnahme von persönlichen Nachteilen,
den Diskurs mit Andersdenkenden initiieren. In diesem Sinne würde in der Tat
Sprache Wirklichkeit schaffen.