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Nathan Münch

Die Geburt des Salonösterreichers aus dem Geiste des Salontirolers

Aktualisiert: 13. Aug. 2022

Es hört sich zunächst (ein wenig?) seltsam an, aber es ist dennoch so, dass der Meinungsfreiheit und der Freiheit im Allgemeinen sehr damit gedient wäre, wenn wir Deutsche alle Österreicher werden würden. Natürlich nicht im Sinne eines Antrags auf Staatsbürgerschaft mit anschließender Übersiedelung nach Wien, Zell am See, Hermagor oder Graz, das täte das tapfere Alpenvolk, das die deutschen Touristenhorden ohnehin die meiste Zeit des Jahres ertragen muss – ich schließe mich hier ausdrücklich mit ein –, nicht verkraften. Nicht Einbürgerung, nicht Übersiedlung also, der richtige Sinn des Postulats ist allerdings gar nicht so einfach zu beschreiben, denn Begriffe wie „geistige“ oder „intellektuelle Österreicher“ schießen weit über das Ziel hinaus, sind viel zu „großkopfert“, wie man sagt.

Den Begriff, den ich hier zur Debatte stellen möchte, orientiert sich daher an einer Bezeichnung des ausgehenden 19. Jahrhunderts für norddeutsche Touristen (auch bekannt als Piefkes), die sich für ihren Wanderurlaub im als exotisch, wild und abenteuerlich wahrgenommenen Alpenraum in alpenländischer Tracht einkleideten: den Salontirolern.

Während es sicher unterhaltsam wäre, wenn Deutsche, gerade Norddeutsche, die in Österreich Urlaub machen, wieder in Lederhosen und Dirndln ihren Kaffee mit Schlagobers, ihre Frittatensuppe oder ihren Kaiserschmarrn verzehrten, so wäre es für die politische Atmosphäre in Deutschland selbst ein Segen, wenn vermehrt Salonösterreicher miteinander debattierten, Reden hielten, Gesetze verfassten und politische Parteien anführten. Warum dem so ist, lehrt uns niemand geringeres als der österreichische Dramatiker und Dichter Hugo von Hofmannsthal. In seinem Schema Preusse und Österreicher, den Preußen verstehen wir hier der Einfachheit halber mal als pars pro toto für Deutsche – beleidigte Bayern können sich ja dann zu den Österreichern gemeinden –, stellte Hofmannsthal die beiden Typen gegenüber und erläuterte damit treffend, die politischen Defizite des Deutschen, die uns auch in diesen Tagen wieder Probleme bereiten.

Politisch ist der Deutsche zunächst und allgemein wankelmütig, um 1800 kosmopolitisch, 1848 liberal, später dann bismarckisch usw., während der Österreicher nur einen Zustand kennt – welcher das ist, dazu gleich mehr. Größtes Problem des Deutschen: er hält sich an Vorschriften, nicht mal unbedingt amtliche Vorschriften, sondern stets auch an die der eigenen Weltanschauung, er handelt aus Prinzip. So würde wohl ein deutscher Gegner der Gendersprache, dürfte er vor tausend Verfechtern derselbigen sprechen, partout das generische Maskulinum verwenden, selbst dann, wenn es unangebracht, unhöflich und offenkundig sinnlos wäre – umgekehrt ebenso. Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele finden, wichtig ist an dieser Stelle aber nur das Verhalten des Salonösterreichers. Sie würde stets der Situation angemessen nach der gebotenen Schicklichkeit agieren, der Österreicher hat ein feines Gefühl für Peinlichkeiten und Scham. Wo der Deutsche mit der Brechstange agiert, da handelt der Österreicher lässig, schon seiner Eitelkeit wegen. Skandale gibt es genügend, weshalb selbst einen provozieren und anschließend, eigentlich ohne wirklichen Grund, schlecht dastehen?

Außerdem besitzen die Österreicher – wie auch die Engländer – exakt das, woran es den Deutschen mangelt, auch wenn sie es nicht zugeben können: Humor. Wir sind ein schrecklich spießiges Volk, deshalb gelingt es uns nicht, den Krisen, denen der Österreicher mit Charme, Witz, Humor und Lässigkeit ausweicht, zu entkommen, im Gegenteil, wir steuern immer geradezu auf Krisen zu, auch weil wir nichts stehen lassen können. Ständig begegnen einem in diesem Land Menschen, die sich lang und breit behaupten wollen, auf die Behauptungen eines anderen ohne Sinn und Verstand eindreschen oder sich gerade rechtfertigen, obwohl es nichts zu rechtfertigen gibt, niemand an den eigenen Behauptungen interessiert ist oder man den gegnerischen Behauptungen ohne Furor mit stiller, vielleicht sogar desinteressierter, Kenntnisnahme begegnen könnte. Ob es vielleicht grundsätzlich besser wäre, erst einmal zu schweigen und abzuwarten, bevor man über den anderen richtet? Meist ist man dabei auch noch selbstgerecht und schulmeisterlich, zudem noch eloquent, dies gesteht Hofmannsthal den Deutschen zu, gleichwohl der überlegene sprachliche Ausdruck mit fehlender Balance einhergeht. Gute Redner verzichten gerne auf allzu differenzierte Darstellungen, sonst wäre ihre Rede nicht mehr gut. Die Eloquenz zieht unweigerlich nach sich, dass der Deutsche schließlich übertreibt – wir sind das Volk der Hyperbel. Jede Gefahr, jedes Problem wird entweder zur Mücke oder zum Elefanten gemacht, mittelmäßige lipizzaner Hengste sind uns fremd, und positive Entwicklungen kennen wir eigentlich nicht. Unsere unerbittliche Konsequenz, dem lebenskünstlerischen Österreicher völlig fremd, lässt jede Verbesserung stets als unvollkommenen, im Grunde gescheiterten Komplettierungsversuch erscheinen. Das kann auch kaum anders sein, denn wir Deutschen führen stets einen Kampf ums Recht, meist um unser eigenes, oftmals aber auch im Namen von Leuten, die weder davon wissen noch selbiges wollen, darauf kommen wir aber nicht: sich in einen anderen hineinzuversetzen kommt uns generell nicht in den Sinn, geschweige denn, dass wir dazu emotional in der Lage wären. Der Österreicher dagegen versetzt sich leicht in andere hinein, soweit sogar, dass der eigene Charakter beinahe zur Gänze verschwunden ist, da er aber ohnehin, im Gegensatz zum übertreibenden Deutschen, zur Ironie bis zur Selbstauflösung neigt, fällt dies nicht weiter ins Gewicht.

Man mag diese Charakterlosigkeit kritisieren, als Schwäche verstehen, als Feigheit, was auch immer, jedenfalls wird der Österreicher so zum Träger einer ganzen Menschlichkeit, während der Deutsche stets nur einen Teil der Autorität seiner „Sache“ sein Eigen nennen kann. Letztlich erkennt man hier den Unterschied zwischen gewolltem Charakter und Schauspielerei, aber bedeutet Anstand eben nicht manchmal einfach das, ein Schauspiel aufführen, um des anderen und seiner Persönlichkeit willen? Das Ganze nicht mit Täuschungsabsicht, sondern schlicht aus dem Wissen heraus, dass beide Seiten besser weiterleben können, wenn man nicht ehrlich, ohne Rücksicht auf Verluste seine Meinung, Ansichten, Haltungen gleich einer Breitseite verteilt, auch dann nicht, wenn man sich voll und ganz „im Recht“ wähnt? Ich bin noch keinem Menschen begegnet, der seine Mitmenschen niemals brüskiert, verletzt oder ihnen Unwohlsein bereitet hätte – und ich spreche hier erneut auch von mir selbst. Der Österreicher mit seiner Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, lässt jedenfalls Milde walten in solchen Situationen, während der eloquente Deutsche gnadenlos vom Zaune bricht. Meist ohne etwas zu gewinnen.

Man kann also nur raten: werden wir Salonösterreicher, Kaffeehausösterreicher meinetwegen, bestellen wir uns immer erst einen Einspänner und einen Strudel, bevor wir aufbrechen und unserem Gegenüber die schlimmsten Dinge unterstellen. Vielleicht laden wir unseren Gegner aus reiner Schicklichkeit, Scham und Eitelkeit mal zu einem zweisamen Einspänner ein und spielen ihm vor, dass wir ihn mehr mögen als es den Anschein hat. Wir könnten feststellen, dass sich hinter den Fassaden, hinter dem Schauspiel, wenn wir nur etwas Milde, Humor und Ironie walten lassen, jemand verbirgt, der zwar „a hatschater Ruabnzuzler“ ist, aber trotzdem ganz patent.

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